St. Moritz, zweiter Renntag 2025, Skikjöring: Die Spannung liegt in der Luft, die Pferde scharren, die Skifahrer sind bereit. Doch statt eines rasanten Starts passiert das Unerwartete: Fast alle Sicherheitssysteme lösen gleichzeitig aus – noch bevor die Teams richtig Fahrt aufnehmen. Ein technischer Zwischenfall, der Fragen aufwirft: Wie konnte das passieren? Und was wird unternommen, um so etwas künftig zu verhindern?
Was war anders an diesem Tag?
Die Analyse zeigt: Am ersten Renntag lief alles reibungslos. Am zweiten jedoch war es deutlich wärmer (+5,1 °C) und vor allem trockener (nur 37 % Luftfeuchtigkeit). Genau diese Kombination begünstigt elektrostatische Aufladung – ein Effekt, den viele aus dem Alltag kennen: der kleine Schlag an der Türklinke im Winter. Bei den Skikjöring-Systemen führte diese Aufladung zu einer fatalen Kettenreaktion. Bis auf ein einziges System lösten alle aus, und zwar synchron über alle vier Trennkapseln hinweg.
Die Kontroll-LEDs der betroffenen Controller blinkten dabei nicht im gleichen Muster, sondern zufällig – ein Hinweis darauf, dass keine einheitliche Software-Sequenz den Auslöser gab. Das Timing fällt ebenfalls ins Auge: Alle Auslösungen geschahen unmittelbar nach dem Start, wenn Material, Bewegung und Reibung «elektrisch aufgeladen» sein können. Diskutiert wurden deshalb mögliche äußere Störeinflüsse wie elektromagnetische Felder (EMF) – vor allem aber elektrostatische Entladungen (ESD).
Zwei Fehler, eine Wirkung
Die spätere Analyse durch Experten (A. Bernhard, L. Langhof und die Cypress GmbH) verdichtete das Geschehen auf zwei Kernursachen:
Die Hardware: Die aus Aluminium und Chromstahl gefertigte Vorrichtung – insbesondere der Zügeltrenn-Mechanismus – kann sich bei niedriger Luftfeuchtigkeit statisch aufladen. Durch die Masse und Konstruktion des Bauteils ist ausreichend elektrische Ladung möglich, die über das Kabel ihren Weg in den Controller findet.
Die Elektronik: Die bis dahin eingesetzte Leiterplatte (PCB) besaß keine dedizierte Schutzbeschaltung gegen ESD.
In Summe bedeutet das: Eine von aussen «einschlagende» statische Spannung konnte im Inneren wie ein falsches Signal wirken – die Elektronik deutete den Moment als Befehl zur Auslösung. Die Folge war das gleichzeitige Trennen aller vier Kapseln bei nahezu allen Systemen.
ESD – das «Türklinken-Phänomen» am Starttor
Wer schon einmal im Winter an eine Türklinke gefasst und einen kleinen Schlag bekommen hat, kennt das Prinzip: Bei trockener Luft lädt sich der Körper leichter auf, und die gesammelte Spannung springt als Mini-Blitz über. Genau das passierte in St. Moritz – nur nicht an der Hand, sondern entlang eines Bauteils und Kabels bis in die empfindliche Elektronik.
Anders als ein kräftiger Stromschlag ist ESD meist «hochvoltig, aber energiearm»: kurze, steile Spannungsspitzen, die Bauteile stören oder irreführen können, ohne sichtbar zu verbrennen. In der Rennsituation kamen Faktoren zusammen: Bewegung, Reibung, unterschiedliche Materialien, Kälte/Wärmewechsel und – am besagten Tag – sehr trockene Luft. Das erklärt, warum der erste Renntag mit hoher Luftfeuchtigkeit unauffällig verlief, während der zweite die Schwachstelle gnadenlos offenlegte.
Warum nicht einfach alles mechanisch?
Eine rein mechanische Lösung klingt verlockend, ist aber unpraktisch: Vier Leinen gleichzeitig per Hand zu trennen, würde enorme Kräfte erfordern und das Handling verschlechtern. Auch ein Totmannschalter birgt Risiken wie versehentliche Auslösungen oder fehlende Statusanzeigen. Deshalb setzt man auf eine Kombination aus smarter Mechanik und robuster Elektronik.
Die Lösungen: Prävention und Schutz
Um künftige Aufladungen gar nicht erst in die Nähe der Elektronik zu lassen, wurde der Auslösemechanismus an Zügel und Zugleine so überarbeitet, dass keine leitende Berührung mehr entsteht. Der Grundgedanke ist simpel: Was sich nicht elektrisch verbinden kann, kann auch keine Ladung weiterreichen. Damit wird der «Zündfunke» – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – an der Quelle entschärft.
Parallel dazu entstand ein geschützter Controller mit mehreren analogen und digitalen Schutzfunktionen. Die Idee: Selbst wenn eine statische Ladung durchkommt, werden Spannungen und Ströme kontrolliert abgeleitet. Spezielle Bauteile, die ab einer gewissen Spannung «leitend» werden, bieten dem Strom einen sicheren, vordefinierten Weg – weg von den empfindlichen Hirnregionen der Steuerung. Ergänzend glätten Pufferkondensatoren die allerschnellsten Spannungssprünge. Man kann sich das wie Stossdämpfer im Fahrwerk vorstellen: Kleine Huckel verschwinden, bevor sie das System aus der Spur bringen.
Grenzen des Machbaren: Warum Erdung hier nicht hilft
«Dann erden wir das Ganze doch einfach», könnte man meinen. Im konkreten Fall greift das zu kurz: Das System ist gekapselt, eine klassische Erdung – also das sichere Ableiten statischer Ladungen – ist konstruktiv nicht umsetzbar, ohne die Schutzfunktion der Kapsel zu kompromittieren. Interessant ist zudem ein Testdetail: Selbst ein direkter «Beschuss» der Kapsel, der Schirmung und der Leitung führte beim neuen System nicht zur Auslösung. Das zeigt, wie komplex das Zusammenspiel aus Geometrie, Material und Kontaktpunkten ist – und warum der gewählte Mix aus Prävention (mechanische Entkopplung) und Schutz (ESD-harte Elektronik) der vernünftigste Weg ist.
Ausblick auf 2027
Der vergangene Winter hat uns gezeigt, dass es bei jeder Erfindung Rückschläge gibt, doch Aufgeben ist keine Devise. Genau diesen Weg gehen die Verantwortlichen jetzt: mit einem überarbeiteten, nicht leitenden Auslösemechanismus und einem Controller, der Spannungsspitzen professionell unterdrückt. Mit der jetzigen Lösung ist ein solides Fundament gelegt.
Bevor das System 2027 offiziell wieder an den Start geht, werden umfangreiche Testversuche auf der Trainingsbahn von Skikjöring-Legende Dury Casty in Zuoz stattfinden, um die neue Technologie unter realen Bedingungen final zu prüfen. So wird aus einem ärgerlichen Zwischenfall ein Schritt nach vorn – damit beim nächsten Start nur eines «auslöst»: das perfekte Rennen.

